Die Köpfe des Thomas Gentner

Eine Serie von 1997-2001 entstandenen großformatigen Bildern Thomas Gentners weist als durchgängiges Merkmal eine Binnenstruktur in Form eines ungefähren Quadrates mit abgerundeten Ecken auf. An einer Seite mündet dieses Quadrat in einen schmaleren Bereich. Die Form könnte eine Vase oder auch eine Insel darstellen. Bei Betrachtung mehrerer dieser Bilder wird jedoch rasch deutlich, dass ein Kopf und der darunterliegende Hals gezeigt werden. Dieses wiederkehrende Motiv wird in den Bildern von unterschiedlichen anderen Bildinhalten begleitet. Teils sind es Formen, die als bestimmte Gegenstände identifiziert werden können: Umrisse menschlicher Körper, Portraits, alltägliche Gebrauchsgegenstände, Teile von Maschinen sind angedeutet. Diese Einstreuungen des Identifizierbaren sind von gegenstandslosen, schwingenden Mustern umgeben. Zwei kontraststarke Farben, im Wechsel gesetzt, rhythmisieren die Flächen. Dies setzt die Bilder in Spannung und ruft unterschiedliche Assoziationen hervor: die Flächen erinnern an Luftbilder, an Gitterstäbe, an die Oberflächentextur mancher Tierarten, an die Oberflächengestaltungen der so genannten primitiven Kunst.

Die in Schwingung versetzten Farbflächen und die Gegenstände sind die Bildeinheiten, aus denen sich das Bildganze zusammensetzt. Als Oberstruktur fungiert die das Bild ordnende große Kopfform. Diese, wie auch die anderen Gegenstände, sind flächig gemalt. Was sonst an Bildinhalten dargestellt ist, endet meist an der Kopfkonturlinie, und kann so dem Kopfinneren oder dem Kopfäußeren zugeordnet werden. Manche Bildeinheiten jedoch zeigen sich gleichsam unbeeindruckt von der Grenzziehung, die die Kopfkonturlinie setzt. Sie finden sich außen und innen, nur kurz unterbrochen von der Konturlinie. Die Konturlinie selbst ist eine zweifarbig gestrichelte Linie. Der Kopf erscheint hierdurch durchlässig, auf Austausch angelegt. Die Köpfe wurden auf bestehende Bilder aufgemalt, zumindest bei den frühen Beispielen der Kopfbilder. Meist werden hierbei die im Kopfbereich liegenden Strukturen gerahmt, die außerhalb liegenden Strukturen hingegen weitgehend übermalt. Es ergibt sich eine dualistische Bildstruktur. Der von der Kopfkontur gerahmte Bereich differiert von dem außerhalb der Kopfkontur liegenden Bereich hinsichtlich Farbigkeit, Formen und Maßstab.

Der Begriff “Kopf” steht obig für den Umriss einer bestimmten Form. Diese Verwendung des Begriffes unterscheidet sich von der alltäglichen Bedeutung. Spricht man über einen Kopf, so ist bei Kunstwerken wie bei realen Köpfen oft die raumgreifende Form gemeint. Köpfe stehen zudem als Metapher für die Intellektualität eines realen oder medial repräsentierten Menschen. Man sagt, jemand sei ein kluger Kopf. Die erste Begriffsbestimmung kann bei der näheren Untersuchung der Köpfe des Thomas Gentner nur ex negativo weiterhelfen, indem hierdurch gerade das Fehlen jeglichen haptischen Charakters, beziehungsweise der malerisch erzeugten Illusion hiervon, deutlich wird.

Es wurde bereits gesagt, dass der Kopf nur mittels Umrisslinie repräsentiert wird. Die Umrisslinie suggeriert in den Bildern meist einen im Profil gesehenen Kopf, wobei jedoch Details wie die typische Gesichtskontur ausgespart bleiben. Der Kopf ist präsent ohne entschieden räumlich zu sein. Die zweite Bedeutung erscheint passender. Die Bedeutung des Begriffes Kopf als Geist einer Person scheint gut durch die zeichenhaften Darstellung des Kopfes wiedergegeben zu werden. Die Bilder kreisen um die Darstellung eines Abstraktums, dessen Bedeutung sich nicht mit der Raumform eines konkreten Kopfes deckt, sondern wesentlich komplexer angelegt ist.

Malerei, die das Sujet Kopf wählt, hat stets mit abstrakter wie konkreter Begriffsbestimmung zu tun. Dies gilt bereits für Außenansichten von Köpfen beziehungsweise Gesichtern. So beschränken sich die Informationen, die beispielsweise im Porträt vermittelt werden wollen, gewiss nicht auf relativ konkrete sinnliche Daten wie Gesichtsform, Augenfarbe oder Teint. Der Kunstbetrachter wie der Betrachter eines realen Gegenübers sieht mehr in einem Gesicht. Er macht sich ein Bild von der dargestellten Person und trachtet gleichsam in tiefere Schichten vorzudringen. In einer Extrapolation seiner Selbstwahrnehmung sucht er den Anderen als Innerlichkeit zu verstehen, wobei der sichtbaren Hülle hierbei, vielleicht paradoxerweise, große Bedeutung zukommt. Aus dieser Grundkonstellation erwächst eine Fülle möglicher Verhältnisse von innerer Realität zu äußerlicher Wirkung, sowie eine mindestens ebenso große Anzahl möglicher malerischer Strategien im Umgang mit diesem Verhältnis. In manchen Bildern Thomas Gentners finden sich von außen betrachtete Köpfe, die nebst anderen Gegenständen von den großen Kopfformen umhüllt werden. Ihr Charakter ist hermetisch. Sie verweigern sich emphatischen Bemühungen des Betrachters. Die Hülle wird hier als undurchdringliche Grenze inszeniert. Indem die Köpfe aber nebst anderen Gegenständen von der Membran der großen Kopfform umhüllt ist, wird klar, dass es sich bei den Köpfen nicht mehr um äußerliche Sinnesdaten, sondern um cerebrale Interpretationen handelt. Was von der großen Kopfkonturlinie umhüllt ist, sind Innenansichten eines Bewusstseins, eines Bereiches also, der der Sinnlichkeit eigentlich entzogen ist, und doch von sinnlichen Eindrücken lebt. Dieser Bezug zur sinnlichen Welt ist schon den konkreten Köpfen eigen. Ist es doch so, dass der Kopf, der in die Welt blickt, sich selbst (mit Ausnahme der Nasenspitze) dabei gerade nicht wahrnimmt. Nur mittels Hilfsmitteln und somit stets verfremdet gerät er ins Blickfeld. Der eigene Kopf ist ein sinnliches Rätsel. Noch rätselhafter sind die Inhalte eines Kopfes oder richtiger Bewusstseins. Sind es nun Bilder, oder Worte, oder sind hier andere Begriffe anzuwenden?

Bilder von Dingen finden sich im Werk Thomas Gentners fast ausschließlich nur im Innenbereich des Kopfes. Die Bildfläche außerhalb zeigt Farb- und Formdifferenzen, jedoch keine Dinge. Die Gegenstände entstehen erst im Kopf, könnte man meinen, gleichzeitig wird diese Grenzziehung jedoch teilweise wieder unterlaufen, indem Innen und Außenwelt sich verschränken und ununterscheidbar werden. Auch sollte man die Gegenstände nicht überbewerten. Konkrete und abstrakte Bildelemente finden sich als gleichrangige und gleichzeitige Momente. Festen Zuordnungen steht zudem entgegen, dass die Bilder von Gegenständen nur kurze Präsenz in den Bewusstseinsbildern zu haben scheinen. Dieser Eindruck entsteht durch die teilweisen und kompletten Übermalungen. Vorangegangene Momente sind noch in Schemen erkennbar, und man ist sich nicht sicher, ob sich nicht bald ein verändertes Bild auf der Leinwand zeigen wird. Vielleicht würden sich auch die Grenzen der Kopfkonturlinie verschieben? Die erkennbaren Gegenstände lassen kleine Geschichten entstehen, die aber eher zufälligen Charakter haben. Sie erzählen von unkonzentriert wahrgenommenen Bildern von Dingen, die sich im Bewusstsein en passant beim Durchschreiten eines Stadt- oder Wohnraumes, dem Durchstöbern einer Jazzplattensammlung, dem Durchblättern eines Lexikons oder eines Warenhauskataloges bilden mögen. Auch hinsichtlich der Narrativität ergibt sich also ein ephemerer Eindruck.

Die Farbpalette vieler Bilder der Serie ist eher düster, auch scheint es, dass sich manche der von der Kopfform eingeschlossenen Bildelemente dort nicht besonders wohl zu fühlen scheinen. Die Pinselstriche werden unruhiger, wenn sie konkrete Dinge bezeichnen, hingegen gelassener, wenn sie abstrakte Formen bilden. Die Farbpalette hellt sich im gleichen Masse auf, wie die Darstellung abstrakter wird. Es könnte sich also teilweise um unerwünschte Wahrnehmungen handeln, die die Köpfe kaum mehr in der Lage sind, zu ordnen. Die Serie der Köpfe des Thomas Gentner dokumentiert diese riskante Wahrnehmungssituation.

Karl Hiller von Gaertringen, 2002